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Trauma und Gewalt befeuern sich gegenseitig
ein Gastartikel von Andrea Wieland
ACHTUNG: Solltest du selbst an einem Trauma leiden, kann es sein, dass der Artikel starke Gefühle in dir auslöst. Lese ihn also nur, wenn du dich bereit dafür fühlst.
Gewalt erzeugt Trauma und Trauma erzeugt Gewalt! Um diesen Kreislauf zu beenden, müssen wir uns fragen, worin der Zusammenhang besteht. Dazu müssen wir Trauma verstehen und erkennen, wie groß die Auswirkungen davon auf das Leben jedes Menschen und auf unsere gesamte Gesellschaft sind.
Was ist Trauma?
Das Wort Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde. Eine Traumatisierung verursacht eine tiefe Wunde, die sich auf Körper, Psyche und Geist eines Menschen auswirkt.
Definition von Trauma
„Ein traumatisches Erlebnis zeichnet sich dadurch aus, dass es die Bewältigungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Betroffenen übersteigt. Es hat eine solche Wucht und Intensität, dass der Betroffene davon überwältigt wird und Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Lebensbedrohung erfährt.“
(Verena König „Bin ich traumatisiert?“, erschienen 2021 im Gräfe und Unzer Verlag)
Zwei Arten
Die Fachwelt unterscheidet zwei Arten: Schocktrauma und Komplextrauma
1. Ein Schocktrauma wird ausgelöst durch einen Unfall, eine Naturkatastrophe, einen Überfall, den Tod eines geliebten Menschen oder das Bezeugen von Gewalt und Not. Es handelt sich um ein einmaliges Ereignis und wird daher auch Monotrauma genannt. Es hat einen Beginn, einen Verlauf und ein Ende. Den meisten Menschen ist diese Art von Trauma bekannt.
2. Zu Komplextrauma (sequentielles Trauma) gehören Kindheitstrauma (Entwicklungs- und Bindungstrauma) und Kriegs- und Fluchttrauma. Ein Komplextrauma bezeichnet meist frühe Traumatisierungen, die durch andere Menschen ausgelöst werden und bei denen über einen längeren Zeitraum im System des Betroffenen toxischer Stress wirkt. Ein Komplextrauma umfasst emotionale, körperliche und sexualisierte Gewalt auch durch Bindungspersonen, emotionale und körperliche Vernachlässigung, fehlenden Schutz durch die Eltern, den frühen Verlust einer Bindungsperson, Mobbing, Erlebnisse durch Krieg und Flucht.
Wie entstehen Traumata?
„Was einem Kind in den ersten Lebensjahren passiert, schlägt unweigerlich auf die ganze Gesellschaft zurück. Psychosen, Drogensucht und Kriminalität sind ein verschlüsselter Ausdruck frühester Erfahrungen.“
(Alice Miller „Am Anfang war Erziehung“, erschienen 1983 im Suhrkamp Verlag)
In den ersten Jahren braucht ein Kind, um zu überleben Sicherheit, Essen, Trinken, Trost und emotionale Zuwendung. Es ist daher essentiell auf die Versorgung und den Schutz der Eltern angewiesen. Wird ein Kind in der Not alleine gelassen, fühlt es sich verlassen, hilflos und ohnmächtig. Es erlebt Todesangst. Das kann auch in Situationen passieren, die wir als Erwachsene nicht „schlimm“ finden.
Beispiel:
Ein Baby liegt in seinem Bett und schläft. Draußen tobt ein gewaltiger Sturm. Ein Ast peitscht an das Fenster des Kinderzimmers. Das Baby wird durch das Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Es liegt in einem dunklen Raum und ist völlig alleine. Es weint.
Version 1: Sein Vater kommt und das Licht geht an. Er hebt das Baby aus dem Bettchen und wiegt es in seinen Armen. Das Kind weint noch eine Weile, doch dann beruhigt es sich. Durch die Co-Regulation des Vaters wird der Stress beim Baby abgebaut und es fühlt sich wieder sicher.
Version 2: Niemand kommt. Das Baby weint immer lauter. Aber egal wie laut und lange es auch weint und schreit, niemand kommt. Das Baby kann sich nicht selbst beruhigen. Es erlebt extremen Stress und Todesangst.
Fehlende Co-Regulation
Erlebt ein Kind überwältigende Situationen, entsteht enorm großer Stress. Es kann das Geschehen nicht verstehen und es kann sich nicht selbst beruhigen. Ein Kind muss erst lernen, seinen eigenen Zustand selbst zu beeinflussen. Wir lernen Selbstregulation durch Co-Regulation. Auf diese Weise erfahren wir, dass wir uns grauenvoll fühlen können, es aber wieder besser wird. Wir lernen, dass sich Körper und Emotionen wieder beruhigen.
Toxischer Stress
Findet keine Co-Regulation statt, kann der Stress nicht abgebaut werden und verbleibt im Körper. Wenn Stress über einen längeren Zeitraum nicht abgebaut werden kann, dann wird er toxisch. Das hat Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung, das autonome Nervensystem und bestimmte Gene.
Welche Folgen haben Traumata?
„Wenn wir die Auswirkungen von Trauma auf die menschliche Psyche verstehen, halten wir einen Schlüssel in den Händen, der uns die Türe zu einer Welt öffnet, in der Menschlichkeit und Verbundenheit die Basis für unsere Entscheidungen bilden.“
(Verena König, „Bin ich traumatisiert?“, erschienen 2021 im Gräfe und Unzer Verlag)
Menschen leiden nicht am Trauma. Sie leiden an den Folgen, weil sie das Erlebte nicht verarbeiten konnten. Die Folgen zeigen sich sehr unterschiedlich und das Spektrum ist groß. Manche sind eher subtil, andere deutlicher und wieder andere Symptome werden auch mit psychischen „Krankheiten“ verwechselt. Auch wenn es so scheint, als ob die Auswirkungen einer Traumatisierung für das Leben eines Menschen keine offensichtliche Katastrophe sind, so leiden die Betroffenen dennoch oft sehr darunter.
Verminderte Stresstoleranz
Andauernder Stress in der frühen Kindheit belastet die Entwicklung des Nervensystems. Die Stresstoleranz wird vermindert und die Stressverarbeitung erschwert. Die Stressbelastung eines Menschen hängt davon ab, wie groß das sogenannte Stresstoleranzfenster ist. Je größer, desto besser können wir mit Stress umgehen und selbst bedrohliche Situationen meistern und verarbeiten. Ein dysfunktionales Nervensystem ist nicht ausgeglichen. Es ist in ständiger Über- oder Untererregung. Betroffene empfinden Situationen daher schnell als bedrohlich. Bedrohung aktiviert den Überlebensmodus, der Betroffene flieht, kämpft oder erstarrt.
Symptome bei Schock- und bei Komplextrauma*:
- Erlebtes wird verdrängt
- Ängste und Panikattacken
- Psychosomatische Beschwerden
- Selbstschädigendes Verhalten, z. B. Ritzen, Essstörungen, Drogenkonsum, Medikamentenmissbrauch
- Süchte und Zwänge jeglicher Art
- Schlafstörungen, Albträume, Unruhe, Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit
- Depressionen
- Konzentrationsschwäche
- Störungen in den Beziehungen und Beziehungsabbruch
Folgen einer Komplextraumatisierung*:
- Autoimmunerkrankungen
- Plötzliche Körperreaktionen, z. B. schwitzen und zittern
- Identitätsprobleme, gestörtes Selbstbild
- Tiefsitzende Glaubenssätze: z. B. „Ich bin wertlos.“, „Ich bin nicht liebenswert.“, „ich bin nicht genug.“
- Es konnte kaum oder gar kein Urvertrauen entwickelt werden.
- Die Welt wird grundsätzlich als ein gefährlicher Ort erfahren.
- Betroffene erleben sich getrennt von sich selbst und von der Welt.
- Tiefe Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle prägen das Leben.
- Starke bis extreme Verlustängste wirken oft sehr negativ auf die Beziehungen.
*Die Aufzählung ist nicht vollständig.
Transgenerationales Trauma
Transgenerationales Trauma bedeutet, dass jede traumatisierte Generation ihre Traumata an die nächste Generation weitergibt. Damit geben wir auch unsere eigenen Gewalterfahrungen an unsere Kinder weiter und befeuern den Kreislauf zwischen Trauma und Gewalt.
Unverarbeitete Traumata prägen unsere Kinder
Ist das eigene traumatische Erlebnis noch nicht verarbeitet worden, schlummert es im Inneren und wir geben die Folgen an unser Umfeld weiter. Wer seine eigene Fähigkeit, liebevolle und empathische Beziehungen zu führen, nicht entwickelt hat, kann auch nicht empathisch reagieren. In keiner zwischenmenschlichen Beziehung. Davon sind alle Menschen betroffen, mit denen wir in Beziehung treten: Beziehungspartner, Freundinnen, Arbeitskollegen, Vorgesetzte, sogar die Frau an der Supermarktkasse. Aber ganz besonders betroffen sind unsere Kinder. Wir prägen sie, indem wir sie den Folgen unserer eigenen Traumatisierung aussetzen.
Beispiel:
„Der 6-jährige Jan soll den Tisch decken. Mühsam hebt er vier Teller aus dem Schrank und schleppt das schwere Porzellan ins Esszimmer. Fast wären ihm die Teller aus der Hand gefallen. Noch mal gut gegangen. Jan atmet erleichtert auf, jetzt nur noch die Teller abstellen und… Da passiert es! Die Teller rutschen auseinander und einer fällt zu Boden. Es klirrt laut und Jan hält sich die Ohren zu. Das Schreien seiner Mutter ist jedoch nicht zu überhören: „Du bist doch wirklich zu nichts zu gebrauchen!“. Er will die Scherben einsammeln, doch seine Mutter ist bereits da. Sie schlägt ihm mit der Hand ins Gesicht und faucht: „Geh da weg!“. Mit einem Handbesen kehrt sie die Scherben in eine Schaufel, dabei schimpft sie unentwegt, ohne Jan auch nur ein einziges Mal anzusehen: „Alles kaputt. Das schöne Geschirr! Du machst immer alles nur kaputt!“ Sie verlässt das Esszimmer und lässt den weinenden Jan alleine zurück.“
Das Kind als Trauma-Trigger
Um nicht mit dem eigenen Trauma in Berührung zu kommen, werden alle damit verbunden inneren Anteile, Empfindungen und Emotionen aus dem Bewusstsein ferngehalten (dissoziiert). Deshalb meiden traumatisierte Menschen Situationen, durch die sie getriggert werden könnten. Ein Trigger ist ein Reiz, der bewusste und unbewusste Erinnerungen an eine Traumatisierung auslöst. Das können Worte, Gesten, Gerüche, Bilder, eine gewisse Atmosphäre oder bestimmte Dynamiken in einer Beziehung sein.
Beispiel:
„Als die Mutter von Jan selbst ein Kind war, hat ihre Mutter sie auch oft angeschrien und geschlagen. Jedes Mal, wenn sie sich in den Augen ihrer Mutter „dumm“ angestellt hat! Sie konnte nie etwas richtig machen. Wenn heute ihr Sohn etwas kaputt gemacht hat, dann rastet sie aus. Irgendetwas in ihr schreit und schlägt auf den Jungen ein. Danach fühlt sie sich schlecht, aber der Junge ist ja auch wirklich unfähig und zu nichts zu gebrauchen…“
Wenn ein Kind in das Leben eines traumatisierten Menschen kommt und dieser selbst Vater oder Mutter wird, dann kann er Trigger-Situationen nicht mehr ausweichen. Das löst Stress bei den Betroffenen aus, mit dem sie nur schwer umgehen können. In solchen Situationen fühlen sie sich schnell bedroht und greifen auf erlernte Muster und Verhaltensweisen zurück. In den meisten Fällen geschieht dies nicht aus böser Absicht, sondern aus Selbstschutz. Die Wirkung auf das Kind ist dennoch traumatisch.
Weitergabe in der Schwangerschaft und durch Gene
Bereits in der Schwangerschaft geben Mütter ihre traumatischen Erlebnisse an das Ungeborene weiter. So beeinflussen diese das gesamte System des Babys bereits vor dessen Geburt. Dies gilt gleichermaßen für traumatische Geschehnisse, die eine Frau während der Schwangerschaft erfährt, als auch für bereits bestehende Traumatisierungen.
Forscher haben herausgefunden, dass Traumata unsere Gene beeinflusst und verändert. Inwieweit diese über die Gene weitergegeben wird, ist noch unklar. Isabelle Mansuy vom Labor für Neuroepigenetik an der ETH Zürich und ihre Kollegen haben dies bei Mäusen untersucht. Die Ergebnisse deuten darauf hin.
„Das Wissen über Trauma hat die Kraft, die Welt zu verändern.“
(Verena König, Traumatherapeutin und Begründerin der traumasensiblen Coaching- und Therapiemethode Neurosystemische Integration IG)
Fazit
Traumatisierung entsteht durch Gewalt und hat einschneidende Folgen für das Leben des Menschen und uns als Gesellschaft. Wenn wir unsere Traumata nicht verarbeitet haben, fehlt uns die Fähigkeit liebevolle und empathische Beziehungen zu führen. Dann geben wir in der Regel die Folgen an unser Umfeld und im Besonderen an unsere Kinder weiter und diese wiederum an ihre Kinder und so weiter. Wir müssen uns den Kreislauf von Trauma und Gewalt bewusst machen und beenden, indem wir unsere eigenen Traumata heilen. Es ist ein Dienst an unseren Kindern und der gesamten Menschheit.
Herzliche Grüße
Andrea Wieland
Über Andrea Wieland
Ich arbeite als freie Texterin, Autorin und Schreibcoach. Meine Themenschwerpunkte sind Trauma und Persönlichkeitsentwicklung.
Es ist mir ein großes Anliegen, Coaches, Therapeuten und Heilpraktiker mit Menschen zusammen zu bringen, die Hilfe suchen, damit sie professionelle Unterstützung bekommen.
Dafür schreibe ich Texte für Websites, Blogbeiträge, Newsletter und Co..
Liebe Andrea,
danke Dir für diesen wertvollen Beitrag. Da ich selbst traumatisiert bin und schon eine lange Heilungsreise hinter mir habe, kann ich vieles unterschreiben. Für mich war es schwierig meinen Kindern die Aufmerksamkeit und vor allem den Körperkontakt zu geben, der für eine gesunde Entwicklung wichtig gewesen wäre, vor allem nicht mehr als sie älter wurden.
Doch ich arbeite an mir, konnte vieles schon integrieren und auflösen. Hoffnung macht mir dabei, dass Kinder in jedem Alter durch die Entwicklung der Eltern heilen können. So hat sich mein Verhältnis zu meinen Kindern sehr verbessert.
Danke für Deine Arbeit.
Es braucht viele solcher Menschen, die sich den herausfordernden Themen der Menschheit stellen.
Liebe Annerose,
vielen Dank für deinen ehrlichen Kommentar. Ich habe Andrea extra um diesen Beitrag gebeten, da das Thema so wichtig ist. Traumatische Erfahrungen haben so viele von uns, doch nicht jeder schafft es, sie aufzulösen und liebevoll mit sich selbst zu bleiben, anstatt sich deswegen Vorwürfe zu machen. Schön, dass du deinen Weg für dich gefunden hast.
Liebe Grüße
Susanne
Liebe Annerose,
ich weiß aus eigener Erfahrung wie viel Mut und Kraft es braucht sich auf den Heilungsweg zu begeben. Ich freue mich sehr, dass sich dadurch das Verhältnis zu dir selbst und zu deinen Kindern so schön verwandelt hat. Das ist ein riesen Erfolg!
Deine Geschichte ist ein wundervolles Beispiel dafür, wie lohnenswert es ist, sich den eigenen Wunden zuzuwenden. Daher danke ich dir sehr dafür, dass du sie so offen mit uns geteilt hast.
Deine Worte sind sehr wohltuend und wertschätzend und bestärken mich in meiner Arbeit. Auch dafür herzlichen Dank!
Ich hoffe, meine Zeilen erreichen dich und wünsche dir alles Gute und eine weiter wachsende Kapazität Liebe zu geben und zu empfangen.
Herzliche Grüße
Andrea